In Deutschland soll es laut einer Studie wesentlich weniger Prostituierte geben als in bisherigen Schätzungen angenommen. Die neuen Zahlen könnten zu einem Umdenken bei Politikern führen, die aktuell die Einführung des Nordischen Modells hierzulande fordern.
Deutschland hat wesentlich weniger Sexarbeiter als angenommen
Sexarbeiter in Deutschland zu identifizieren und zu zählen ist kein leichter Job: Die meisten Prostituierten arbeiten selbstständig. Ihre Berufsbezeichnung ist dementsprechend auch nicht einheitlich geregelt. Umschreibungen für die Sexarbeit sind zulässig und gang und gäbe. Zusätzlich gibt es noch die illegale Prostitution, welche im Verborgenen stattfindet.
Lange Zeit kursierte dennoch eine Schätzung im öffentlichen Diskurs: Demnach sollten 200.000 bis 400.000 Sexarbeiter in Deutschland tätig sein. Auch die Politik arbeitet mit solchen Zahlen. CSU-Politikerin Dorothee Bär behauptete in diesem Jahr gegenüber der Bild, dass sich Deutschland mit 250.000 Prostituierten zum „Bordell Europas“ entwickelt habe.
Doch stimmen die Zahlen tatsächlich? Erobella, ein Anzeigenportal für Sexarbeiter, hat nun versucht, der Herkunft der Behauptung auf den Grund zu gehen und eigene Zahlen zu ermitteln. Das Ergebnis: Nur 88.000 Sexarbeiterinnen sollen in Deutschland tätig sein.
Geschätzte und offizielle Zahlen im Vergleich
Um die Zahl der Prostituierten in Deutschland einschätzen zu können, hat Erobella sich die Situation in Deutschlands 20 größten Städten angesehen. Dort ermittelte das Portal die tatsächlich registrierten Sexarbeiterinnen. In 14 Städten habe Erobella nach eigenen Angaben außerdem verlässliche Werte für die geschätzte Anzahl an Prostituierten ermitteln können. Sie lagen im Durchschnitt 3,14 mal höher als die offiziellen Registrierungen.
Hochgerechnet auf ganz Deutschland kommt Erobella damit auf eine Schätzung von etwa 88.000 Sexarbeitern. Die Zahlen decken sich auch mit einer früheren Schätzung der Organisation „Doña Carmen“. Offiziell gibt es 28.280 registrierte Sexarbeiterinnen in Deutschland.
Bisherige Schätzungen sollen vor 40 Jahren entstanden sein
Aber woher nimmt Dorothee Bärs dann ihre wesentlich höheren Schätzungen? Laut Erobella stammen die Zahlen aus weit vergangener Zeit. 1985 soll eine Schätzung zur Anzahl der Sexarbeiter in Deutschland auf einer Tagung des Sozialdienstes katholischer Frauen zum ersten Mal aufgetreten sein. Die Frankfurter Rundschau habe sie zitiert und erwähnt, dass die Dunkelziffer doppelt so hoch sein könne.
Unterschiedliche Magazine und Zeitschriften übernahmen diese Zahlen und letztlich wurden sie auch zum Wert, mit der Politik gemacht wird. Ola Miedzynska, Mitgründerin von Erobella, erklärt: „Wir müssen der Realität ins Auge sehen: Die realen Zahlen zeigen, dass Sexarbeit in Deutschland nicht das monströse Bild ist, das oft gezeichnet wird.“
Außerdem sei es Zeit, umzudenken. Statt Stigmatisierung und Übertreibung brauche es Aufklärung und Unterstützung für Prostituierte. Auch die Frage, ob ein neues Prostitutionsgesetz im Rahmen des umstrittenen „Nordischen Modells“ überhaupt gerechtfertigt ist, müsse komplett neu überdacht werden.